Die Magie des Augenblicks

„Die glücklichsten Momente erlebe ich, wenn ich es schaffe, mich auf der Bühne fallen zu lassen und alles um mich herum zu vergessen“, sagt Khatia Buniatishvili. (Foto: Gavin Evans / Sony)

„Die glücklichsten Momente erlebe ich, wenn ich es schaffe, mich auf der Bühne fallen zu lassen und alles um mich herum zu vergessen“, sagt Khatia Buniatishvili. (Foto: Gavin Evans / Sony)

Falter Stadtzeitung 16/16

Das Cover ist tiefschwarz und auf Hochglanz poliert. Kein Titel, keine Schrift, nur die übereinander gelegte Vorder- und Rückenansicht einer jungen Frau mit dunkler, wilder Mähne. Die junge Frau heißt Khatia Buniatishvili. Der Name kommt aus Georgien. Dort wurde sie geboren, dort wuchs sie auf, dort kam sie mit der Musik in Berührung. Als kleines Mädchen sang Khatia georgische Volkslieder, im Alter von sechs Jahren debütierte sie als Solistin mit Orchester. Als Zehnjährige reiste sie zum ersten Mal zu Gastspielen nach Europa und in die USA. Bei einem Wettbewerb in Tiflis lernte sie ihren späteren Lehrer Oleg Maisenberg kennen, der sie zum Wechsel nach Wien bewegte. Maisenberg war es auch, der die junge Pianistin immer wieder dazu ermutigte, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen – als Künstlerin und Interpretin. Zu Wien hat Khatia Buniatishvili immer noch eine ganz besondere Verbindung, hier verbrachte sie ihre Studienjahre, hier musste sie lernen, ihren eigenen Weg zu gehen, weit weg von zu Hause.

Khatia Buniatishvili versteht es, auf ihrem Instrument Geschichten zu erzählen. Anders als die Konzerte, sagt sie, seien ihre CDs wie ein Spiegel ihrer Persönlichkeit. „Da kann ich meinen Geisteszustand am Besten ausdrücken. Sie sind Momentaufnahmen aus meinem Leben“. Nach Chopin und Liszt sowie dem Album „Motherland“, das ihrer Mutter und der Heimat Georgien gewidmet war, demonstriert die Pianistin mit ihrem neuen Wurf, „Kaleidoscope“ (Sony), auf dem sie Mussorgski, Ravel und Strawinski spielt, wieder echtes Virtuosentum, im besten Sinne des Wortes. Dämonisch, nicht akademisch; charismatisch, individuell und hypersensibel. „Der Name kam mir in den Sinn, weil mich die vielen Farben in der Musik an ein Kaleidoskop erinnern“. Im Mittelpunkt stehen die „Bilder einer Ausstellung“, die Mussorgski als Erinnerung an den zuvor verstorbenen Freund und Maler Victor A. Hartmann komponierte. Für Khatia Buniatishvili ist es existenzielle Musik: „Ich empfinde den Gang durch die Ausstellung als Metapher für das Leben. Die Bilder versinnbildlichen die vielen verschiedenen Emotionen und Erfahrungen. Es ist ein sehr persönliches Werk, in dem ich einen ständigen Austausch zwischen Schöpfer und Betrachter sehe. So erlebe ich es auch, wenn ich spiele. Auf der einen Seite mache ich Musik und auf der anderen Seite bin ich die Musik.“

Wenn Khatia Buniatishvili die Bühne betritt, dann steht plötzlich die Zeit still. Wie in Trance sitzt sie am Flügel, verloren in der Musik, während ihre Finger über die Tasten tanzen. Zu Hause, beim Üben, sagt die 29-Jährige, spiele sie die Stücke nie von Anfang bis zum Schluss durch. So bleibe die Magie des Augenblicks immer dem Konzert vorenthalten. Khatia Buniatishvili spielt mit Körper, Geist und Seele. Sie trägt gerne lange, hautenge Kleider. Und sie ist wahrscheinlich die einzige Frau, die mit Fünfzehn-Zentimeter-Hacken Klavier spielen kann. Die Musik empfindet Khatia Buniatishvili als intimes Zwiegespräch und als rauschhaften Zustand. Als Gefühl der Ektase und der grenzenlosen Freiheit. „Die Freiheit der Interpretation brauche ich, um dem Moment der Inspiration Raum zu geben“. So etwas lasse sich nicht bis ins letzte Detail planen. Kurz bevor sie auf die Bühne geht, fixiert sie ihre Augen im Spiegel und konzentriert sich auf ihre innere Stärke. „Die glücklichsten Momente erlebe ich, wenn ich es schaffe, mich auf der Bühne fallen zu lassen und alles um mich herum zu vergessen“. Dann sei auch kein Verstellen mehr möglich. „Du musst ehrlich sein, wenn du spielst. Am Klavier offenbare ich meine Seele. Glück und Unglück sind da manchmal ganz nahe beieinander. Es ist wie das Leben oder die Liebe. Da gibt es keine Regeln. Manchmal ist man enttäuscht, manchmal glücklich.“

So gerät Ravels „La Valse“ zu einem rauschhaften Tanz zwischen Euphorie und Dekadenz, Lust und Angst. „Hinter den Farben verbirgt sich manchmal etwas Dunkles, Tragisches“. Etwa bei Strawinskis „Drei Sätze aus Petruschka“, diesem aberwitzig schwierigen Stück, das ursprünglich für Orchester komponiert wurde und hier in seiner ganzen Pracht erklingt. „Obwohl Petruschka erschlagen wird, tanzen und feiern die Menschen um ihn herum weiter“. Da ist er wieder, der Blick durch das Kaleidoskop, der selbst die schlimmste Realität zum Leuchten bringen kann. „Er ist wie ein Weichzeichner, der uns das Tragische für einen Augenblick vergessen lässt“, sagt Khatia Buniatishvili.

Seit einigen Jahren hat die Pianistin eine Wohnung in Paris, auch wenn sie eigentlich die meiste Zeit aus dem Koffer lebt. „Wenn ich an Paris denke, dann denke ich an Chopin, an Liszt und an die Belle Epoque“. Als am 13. November die Stadt brannte, war Khatia Buniatshvili auch da. „Nach den schrecklichen Attentaten habe ich gesehen, wie junge Paare mit ihren Kindern in den Park gegangen sind. Eine schöne Botschaft. Fast ein bisschen so wie bei Petruschka. Wer am Leben bleiben will, muss weitertanzen. Nur dann besteht Hoffnung, dass sich ein Wunder ereignet und die Realität bunt bleibt.“

Khatia Buniatishvili Kaleidoscope Sony Classical, € 18

Khatia Buniatishvili
Kaleidoscope
Sony Classical, € 18