Die lange Reise nach Babylon

Bühne

Jörg Widmann (Foto: Marco Borggreve)

Jörg Widmann (Foto: Marco Borggreve)

Jörg Widmann ist viel unterwegs. Wie immer hat er einen Vorrat an Notenpapier eingepackt – zum Komponieren. Wie Elektroden schießen die Noten durch seinen Kopf und selbst, wenn er zu schlafen versucht, rumoren die Kontrabässe weiter. Widmann sitzt in einem Hotel in Würzburg, wo ihm heuer beim Mozartfest ein Schwerpunkt gewidmet ist. Am Abend eröffnet er ebendieses mit Mozarts Klarinettenkonzert. Widmann liebt Mozart, mehr als jede andere Musik, deshalb soll es heute auch nur um ihn gehen. „Vielleicht schaffe ich es ja in den nächsten Tagen mein Schreibgerät hervorzuholen“. Überragender Interpret und Klangschöpfer, inspirierender Dozent und Dirigent – Widmann ist alles zugleich, alles mit der gleichen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit. Wenn es um die Musik geht, ist alles scheinbar Gegensätzliche vereint.

Es ist das Unerhörte, das Verborgene und das Vergessene, wonach Jörg Widmann in der Musik sucht. In seinen Kompositionen sind Konsonanz und Dissonanz, Harmonie und Disharmonie Einheit und Gegensatz zugleich. „Wenn wir die Ahnen und Erben ganz selbstverständlich in einen Dialog treten lassen“, sagt er, „fangen die Töne erst richtig zu glänzen an“. Manches entsteht in monatelanger Arbeit, manches aus dem Forschen und Probieren am jeweiligen Instrument. „Wenn es sich reibt, beginnt es für mich spannend zu werden“. Denn Musikern treibt Widmann dabei oft genug den Schweiß auf die Stirn. „In meiner Musik habe ich es manchmal mit Klängen zu tun, die noch gar nicht standardisiert sind. Ich muss also eine Notation finden, damit der Spieler das auch umsetzen kann. Viele sind dann überrascht, dass das man das so überhaupt spielen kann.“

Die Lust am Experimentieren fand Jörg Widmann beim Üben auf seinem Instrument –der Klarinette. „Irgendwann wollte ich wissen, wie dies oder jenes auch auf anderen Instrumenten klingt. Ich habe dann meine Mitschüler oder meine Schwester gefragt, die Geige gespielt hat. So habe ich neue Klänge und Möglichkeiten entdeckt“. Nach dem ersten Klarinettenunterricht als Siebenjähriger und ersten Kompositionsstunden als Elfjähriger, studierte Jörg Widmann bei den Besten: für die Klarinette war es Charles Neidich an der Juilliard School in New York, fürs Komponieren waren es Hans Werner Henze, Wilfried Hiller, Heiner Goebbels und vor allem Wolfgang Rihm – Musiker, die von ihrer Klangästhetik gar nicht unterschiedlicher sein konnten. Gerade recht für Jörg Widmann, der immer schon nach den Spannungen strebte, statt sie zu meiden. „Ich habe bei allen meinen Lehrern gelernt, nach dem eigenen Klang zu suchen, nach der eigenen Musik.“

Zuletzt wurde Jörg Widmanns Oper „Babylon“ nach einem Libretto von Peter Sloterdijk an der Bayrischen Staatsoper aufgeführt. Das Publikum war begeistert, die Kritiken durchwachsen. „Wenn man den Rezensionen zu meiner Oper glauben darf, dann stehe ich in meiner Eigenschaft als Komponist am vorläufigen Tiefpunkt der Moderne“, sagt Jörg Widmann. „Da schreibt man zwei Jahre lang eine 700-Seiten-Partitur und geht fast daran zu Grunde – natürlich ist man gekränkt und traurig, wenn so eine Reaktion kommt. Wer auf die Bühne geht, muss wissen, dass er sich angreifbar macht, denn Musik hat immer mit Emotionen zu tun.“

Seit kurzem hat „Babylon“ den Komponisten Widmann wieder fest im Griff. Eine gleichnamige Suite ist im Entstehen, die am 21. August in Grafenegg aus der Taufe gehoben werden soll. Das Festival, wo Jörg Widmann in diesem Sommer als Composer in Residence zu Gast sein wird, hat das Werk in Auftrag gegeben, dirigieren wird Kent Nagano, der auch schon die Oper leitete.

In Grafenegg will sich Jörg Widmann im Wortsinne „angreifbar“ machen – als Interpret, Komponist, Vortragender und Workshop-Leiter. Mit ihm gemeinsam werden Komponisten ihre Werke erstmals mit Orchester erarbeiten und in einem öffentlichen Konzert selbst dirigieren. Widmann weiß, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen essentiell ist. „Wenn ich nicht die Gelegenheit gehabt hätte, meine Werke, sprich auch die eigenen Fehler, früh mit Ensembles und Orchester zu hören, dann wäre ich nicht da, wo ich heute bin“, sagt er.

Dass Widmanns Neugierde und Spiellust mitunter ansteckend sein können, zeigt sich auch in den unterschiedlichen Programmen, die er gemeinsam mit den Verantwortlichen des Festivals „komponiert“ hat und dabei Altes und Neues, Bekanntes und Gewagtes miteinander kombiniert – Musik, die überwältigt und die Seele berührt. „Daher sind an einem Abend schon mal meine Elegie und die Symphonische Tänze op. 45 von Rachmaninow zu hören. Ich hoffe, dass wir das Publikum anregen können, die klassischen und romantischen Meisterwerke auch mal in einem ganz anderen, neuen Kontext zu erfahren“.

Wieder einmal geben die Stimmen in Widmanns Kopf keine Ruhe. „Die Oper Babylon ist dem Thema entsprechend so maßlos üppig instrumentiert, dass ich es ganz neu schreiben musste“. Bei der Frage, ob es nicht einfacher gewesen, etwas Neues zu komponieren, winkt Widmann ab. „Ich bin da ganz bei Schönberg: Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen. Es gibt, wenn ich schreibe, eigentlich kaum etwas anderes. Außer Skrupel vielleicht.“ Manchmal, erzählt Jörg Widmann, würde er sich eine gewisse Routine wünschen. „Ich bin beim Komponieren immer ungeschützt. Mit den Zweifeln umgehen kann ich eigentlich nur durch das Tun. Dann kommt die Premiere, gefolgt von einem tiefen schwarzen Loch. Bis sich neue Stimmen melden und ich wieder in einem neuen Stück bin“.