Die Magie des Augenblicks

Concerto Winderstein

Andrés Orozco-Estrada (Foto: Werner Kmetitsch)

Andrés Orozco-Estrada (Foto: Werner Kmetitsch)

„Das Wunder von Wien“, schrieb die österreichische Tageszeitung der Standard im Jahr 2004 über Andrés Orozco-Estrada. „Das Debüt des Jahres, vielleicht sogar des Jahrzehnts“, hieß es weiter im Text. „Jeder fähige Orchestermanager sollte den Mann vom Fleck weg engagieren“. Überschwängliches Lob, in der durchaus kritischen Musikmetropole, für den damals noch unbekannten Dirigenten aus Kolumbien und eine fulminante Feuertaufe für den 27-jährigen. Fast zehn Jahre ist das jetzt her und Andrés Orozco-Estrada erinnert sich immer noch an jede Minute. An den Anruf, ob er im Wiener Musikverein kurzfristig beim Tonkünstlerorchester einspringen könne, keine 24 Stunden vor dem Konzert.

Auf dem Programm standen Bruckners Vierte und die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Orozco-Estrada kannte die Stücke, hatte sie aber noch nie dirigiert. Er behielt es für sich. Nach einer halben Stunde Bedenkzeit sagte er zu. „Wenn du so eine Chance bekommst, musst du zuschlagen“, sagt er. „Ich hatte nichts zu verlieren. Wenn nichts daraus wird, dachte ich mir, dann gehe ich eben wieder nach Kolumbien zurück und kein Mensch erinnert sich an mich. Aber wenn es klappt, dann wird dieses Konzert bestimmt etwas Besonderes“.

Andrés Orozco-Estradas Instinkt sollte ihm Recht geben. Nun ging es Schlag auf Schlag. Es folgten zahlreiche Debüts bei internationalen Orchestern wie dem Gewandhausorchester Leipzig, dem DSO Berlin oder dem Radiosinfonieorchester Stockholm. Seit 2009 ist er Chef der Tonkünstler, 2010 klopften schließlich auch die Wiener Philharmoniker bei ihm an. Esa-Pekka Salonen war erkrankt und das Orchester stand ohne Dirigent da. Erneut war die Zeit extrem knapp. Wieder war es ein sensationelles Debüt. In der selben Tageszeitung las man später über Andrés Orozco-Estradas Kunst, die schier unendlich langen Phrasen bei Dvoraks siebter Symphonie mit Spannung zu erfüllen. Das erfordert Geduld und Konzentration. Das wichtigste, so Andrés Orozco-Estrada, ist es immer ein klares Ziel vor Augen zu haben. Wohin führt die Musik? Wie sieht der Weg aus? Dann spannt sich der Bogen ganz selbstverständlich, von Innen heraus, quasi organisch. Sich Zeit lassen, genießen, auskosten, ohne eine Spur von Maßlosigkeit – eine Kunst, die ein hohes Grad an musikalischer Sensibilität und Intelligenz erfordert. Andrés Orozco-Estrada beherrscht sie mühelos. Organisch, so ist auch seine Liebe zur Musik erwachsen. Sie war einfach da.

1977 wurde Andrés Orozco-Estrada in Medellín geboren, in jener Stadt, die in den 1980er Jahren durch den Aufstieg gefürchteter Drogenkartelle traurige Berühmtheit erlangte. Für Kultur war da kaum noch Platz und die schwelende Gewalt Tag und Nacht spürbar. Dabei waren in den Fünfziger Jahren alle in Medellín gewesen, erzählt er: Kleiber, Bernstein und der blutjunge Barenboim. „Zu meiner Schulzeit war nur mehr ein Symphonieorchester übriggeblieben, das infolge auch aufgelöst wurde“. Dennoch wurde im Hause Orozco-Estrada viel und gerne Musik gehört, gesungen und musiziert, vor allem kolumbianische Folklore. Zu späterer Stunde gab es manchmal auch die eine oder andere Tanzeinlage. Unbeschwerte Momente des Glücks.

Und die Liebe zum Dirigieren? Schon als kleiner Bub stand Andrés Orozco-Estrada im Wohnzimmer und leitete sein eigenes imaginäres Orchester. Aus den Boxen dröhnte damals Mozarts „Kleine Nachtmusik“, die erste Kassette mit klassischer Musik, die er besaß. „Meine Mutter war so besorgt, dass sie mich zum Psychologen schickte. Der meinte, ‘ihr Kind ist entweder verrückt oder begabt’“. Seine Mutter vertraute auf Zweiteres. Als Stipendiat besuchte Andrés Orozco-Estrada die gerade gegründete Privatschule in Medellín, einer musikalischen Gesamtschule im besten Sinnen des Wortes, von der musikalischen Früherziehung bis zur Matura. Bis heute bleibt das Instituto Musical Diego Echavarría die einzige Schule dieser Art in Medellín.

Damals spielte Andrés Orozco-Estrada Geige im Schulorchester, sang im Chor und bekam bereits mit sechs Jahren Unterricht in Solfeggio und Harmonielehre. Verrückt aufs Dirigieren ist er immer noch, bastelt sich einen Dirigierstab und imitiert zum großen Vergnügen seiner Mitschüler Karajan und Bernstein, die er in der Schule auf Video sieht. „Irgendwann meinte mein Lehrer, ich solle doch am besten selbst das Kammerorchester dirigieren. Damals war ich 14“. Kurz darauf sprang er zum ersten Mal ein, als bei einem Konzert des Medellíner Jugendorchesters plötzlich die Dirigentin krank wurde. Nervosität? Keine Spur! „Ich hatte einfach Glück“, fasst er heute zusammen. „Und ich wusste, dass ich unbedingt Dirigent werden will“. Mit 19 kauft er sich mit seinem ganzen Ersparten ein Flugticket und wagt den Sprung nach Wien, ohne Geld und ohne ein Wort Deutsch. Wieder vertraut Orozco-Estrada seinem Instinkt.

1997 wird er an der Musikuniversität aufgenommen. Sein Lehrer, Uroš Lajovic, Schüler des legendären Dirigenten und Professors Hans Swarowsky, vermittelt dem temperamentvollen jungen Mann mit dem braunen Lockenkopf, was es bedeutet Kapellmeister zu sein: die durchdachte Geradlinigkeit, die Klarheit in der Tongebung und Klanggestaltung. „Ich hatte jede Menge Ideen, aber keine Struktur. In Wien habe ich gelernt, wie wichtig eine detaillierte Technik und ein klarer Schlag sind, um ein Orchester zu führen.

Zwischen Unterricht und Studium steht Andrés Orozco-Estrada auf der Kärntnerstraße und verdient sich sein Geld, indem er Konzertkarten an Touristen verkauft. Das Stipendium, für ein Jahr angedacht, muss für zwei reichen. Andrés Orozco-Estrada lacht: „Ich habe nie wieder so oft Spaghetti mit Thunfisch gegessen“. Um Deutsch zu lernen, besorgt er sich eine Taschenpartitur mit einem seiner Lieblingswerke, Mahlers Erster. Keine leichte Übung, ist sie doch mit unzähligen Anmerkungen des Komponisten versehen. Mit einem Wörterbuch übersetzt Andrés Orozco-Estrada die Partitur Wort für Wort – am Schluss sind die Seiten mit unzähligen Post-its versehen.

Andrés Orozco-Estradas Neugierde, seine bedingungslose Offenheit, sein Charme, sein Witz und seine Intelligenz sind inspirierend, ja geradezu ansteckend. Und sie sind exemplarisch für seine Arbeit als Dirigent. Er ist mit seiner ganzen Kraft, seinen Emotionen und seiner Energie und Leidenschaft bei der Musik und den Musikern. Seine größte Freude beim Dirigieren, betont Andrés Orozco-Estrada, sei, dass er seine Erlebnisse mit den Musikern und dem Publikum teilen kann. „Dieses Geben und Nehmen hat etwas Besonderes“. Zuhören, annehmen, Freiräume schaffen und die Musik dramatisch zum Glühen zu bringen – wenn der Kolumbianer vor dem Orchester steht, dann ist es wie ein Sog, der einen geradezu magisch in seinen Bann zieht.

Die Kraft der Musik, so Orozco-Estrada, liegt im tiefen Respekt vor den Absichten des Komponisten, in Demut und Hingabe. Kein Wunder also, dass der junge Mann aus Südamerika zu den derzeit gefragtesten Dirigenten seiner Generation gehört und immer wieder gern gesehener Gast in Rom, Birmingham oder Paris ist. Mittlerweile umkreist er den gesamten Globus und bestreitet mit „seinem“ Orchester, den Tonkünstlern, im Wiener Musikverein, wo er einst als Student Dirigentengrößen wie Jansons, Thielemann und Maazel bei den Proben beobachtete, einen eigenen Zyklus.

In München ist der Mann aus Medellín mit dem Mahler Chamber Orchestra zu erleben. „Hier stimmt einfach die Chemie“, sagt Andrés Orozco-Estrada, der sein Debüt mit dem renommierten Klangkörper 2010 im Rahmen einer Tournee nach Südamerika feierte, die ihn unter anderem auch in seine Heimatstadt Medellín führte. „Es waren ungemein inspirierende Wochen. Musik ist die schönste Sprache der Welt. Jeder Augenblick des gemeinsamen Musizierens und die gemeinsame Suche nach Klang waren eine Entdeckungsreise. Wie schön, dass sie noch nicht zu Ende ist“. Erst vergangenen Dezember war der Dirigenten mit dem Mahler Chamber Orchestra in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Schon damals stand auch Mendelssohn auf dem Programm, einer von Orozco-Estradas Lieblingskomponisten. Wenn Andrés Orozco-Estrada über Mendelssohns Musik spricht, dann hört man beinahe einen missionarischen Eifer heraus. „Er wird immer noch unterschätzt – zu Unrecht! Ich bewundere seine unglaubliche Frische, seine Genialität und Spontaneität. Das Doppelkonzert, dass wir in München spielen, hat er mit gerade einmal 15 Jahren komponiert, das muss man sich einmal vorstellen!“ Neben Strawinskis genial humoristischer „Pulcinella Suite“ erklingt auch Beethovens 5. Symphonie. Für Andrés Orozco-Estrada die ultimative Prüfung. „Das ist wie die Besteigung des Kilimanjaro. Man kann sich nie sicher sein, dass es gelingt, den Gipfel auch tatsächlich zu erklimmen“. Darauf, Beethovens Schicksalssymphonie mit einem Kammerorchester zu spielen, freut sich Orozco-Estrada ganz besonders. Weil man hier, anders als bei einem großen Orchester, die Möglichkeit hat, jede Menge neue Details herauszuholen. „Die Musik wirkt extremer, weil sie direkter, unmittelbarer klingt“. Unmittelbarkeit, für Andrés Orozco-Estrada ein Zauberwort. Das Unsichtbare mit Gestalt versehen. Das beherrscht Andrés Orozco-Estrada instinktiv. Technik lässt sich erklären, Magie nicht.