Von innen heraus

Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Herbert Blomstedt (Foto: Martin U.K. Lengemann)

Herbert Blomstedt (Foto: Martin U.K. Lengemann)

Er war Chefdirigent in Oslo, Stockholm, Dresden, San Francisco und Leipzig – und ist längst das, was man einen Grandseigneur nennt: Herbert Blomstedt. Im März dirigiert der 85-Jährige das Gustav Mahler Jugendorchester. Miriam Damev hat ihn in seiner Wahlheimat Luzern besucht.

Eigentlich hatte ich ein Telefoninterview geplant. Doch dann schlug mir Herbert Blomstedt vor, ihn doch bei ihm zu Hause zu besuchen. Und so sitze ich im Zug von Zürich nach Luzern und höre Bruckners Vierte. Herbert Blomstedt dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. Links und rechts ziehen Wälder, Wiesen und Seen an mir vorbei. Ich schließe die Augen und lausche der Musik. Nach einer dreiviertel Stunde ist Endstation. Pünktlich zu den letztenTakten von Bruckners „Hasenjagd“.

Mit einem bunt bebilderten Stadtplan und einer Adresse in der Hand wähle ich Blomstedts Telefonnummer. Ob ich schon in Luzern gewesen sei, fragt er mich. Ich verneine. „Dann gehen Sie ruhig zu Fuß, es ist eine hübsche Strecke.“ Luzern ist ein schmuckes mittelalterliches Städtchen. Wäre da nicht der eisige Novemberwind, der mir erbarmungslos ins Gesicht bläst. Ich verlaufe mich in den verwinkelten Gassen. Die Strecke von rund zwanzig Minuten nehme ich in vierzig.

Zeit für Bruckner

Herbert Blomstedt heißt mich willkommen und drückt meine erfrorene Hand. Er ist großgewachsen und schlank. Hinter der rahmenlosen Brille blitzen die blauen Augen und buschigen Brauen hervor. Dass Blomstedt vergangenes Jahr seinen 85. Geburtstag feierte, mag man kaum glauben. Ich würde ihn auf Anhieb zwanzig Jahre jünger schätzen. Leichten Schrittes führt er mich ins Wohnzimmer, wo ein schöner alter Steinway-Flügel steht. Auf dem Pult liegt Bachs Wohltemperiertes Klavier, an der Wand hängt eine Radierung mit dem Kopf Anton Bruckners. Die zwei Hausgötter, Bach und Bruckner, sind hier nah beieinander. Viele brauchen ihre Zeit, um sich der Musik Anton Bruckners anzunähern, denn sie erfordert Geduld, Ruhe und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Für den nervös verhetzten Menschen keine Selbstverständlichkeit. „Die Zeit von Bruckner kommt, wenn man zu ihm flüchten muss“, sagt Herbert Blomstedt. Gibt es bei Bruckner auch so etwas wie Liebe auf den ersten Blick? Blomstedt lacht. „Ich habe Bruckner zum ersten Mal als 13-jähriger in Göteborg gehört, die Vierte Symphonie, überirdisch schöne Musik. Auf dem Nachhauseweg sind wir mit meinem Bruder noch durch den Park spaziert und haben versucht alle Themen nachzupfeifen. Das war wunderbar. Mahler hingegen fand ich damals abscheulich und vulgär.“ Die Liebe zu Mahler wird kommen, später – welch ein Glück. Bruckner hingegen verzaubert den jungen Blomstedt und lässt ihn fortan nicht mehr los.

Die Ahnung des Göttlichen

Herbert Blomstedt summt den Beginn der Vierten Symphonie. Die rechte Hand schwingt er elegant mit dazu. In meinem Kopf ruft das Horn aus dem Waldesdunkel. In Blomstedts Gesicht leuchtet ein jungenhaftes Lächeln auf. „Ist das nicht herrlich? Diese Weite in der Musik, die gibt es nur bei Bruckner.“ Monumentale Architektur und kühne Harmonik, Exzentrik und Spiritualität prägen Anton Bruckners symphonisches Schaffen – wer Bruckner spielt, braucht indes einen langen Atem. Die Anforderungen an die Musiker sind enorm, technisch und musikalisch. „Bruckner zu spielen ist schwierig und strengt den ganzen Körper an“, sagt Herbert Blomstedt. Aber: „Man muss eine gewisse Ruhe mit sich bringen, wenn man eine Bruckner-Symphonie dirigiert. Die Spannung kommt, anders als bei Mahler, von innen heraus. Wer sein Pulver zu früh verschießt, dem entgeht die unentrinnbare Wirkung von Bruckners Musik.“ Bei Blomstedt zieht sie einen geradezu rauschhaft in den Bann.

Anton Bruckner selbst gab seiner Symphonie Nr. 4 den Beinamen „Romantische“. Morgendämmerung, Waldesrauschen, Vogelgesang – so beschrieb der Komponist den ersten Satz, wobei es sich hier weniger um Programmmusik handelt, sagt Herbert Blomstedt. „Bruckner bringt eine machtvolle, überwältigende Natur zum Klingen, die Ahnung des Göttlichen, das Streben nach dem Unendlichen.“

Die Kirche im Dorf lassen

Herbert Blomstedt, der 1927 in Amerika als Kind schwedischer Eltern geboren wurde und in Finnland aufwuchs, ist tief gläubiger Christ. Seine Mutter war Pianistin, sein Vater Pastor der Siebenten-Tags-Adventisten. Dennoch wäre es ein großes Missverständnis, Bruckners Musik verzerrt religiös zu deuten. „Bruckner war ein religiöser Mensch und die Kirche ein wichtiger Teil seines Lebens. Letztendlich wurde sie aber zu eng für seine Musik. Die Symphonien hat Bruckner, so wie Beethoven auch, für die Welt geschrieben, sie wachsen über die Kirche hinaus.“

Und wie gestaltet der Protestant Blomstedt den Katholiken Bruckner? Klar und direkt, mit straffen Tempi und mit gezielter Wucht, ohne auch nur eine Spur von Maßlosigkeit. Die Kirche, findet er, könne man bei Bruckner ruhig öfters mal im Dorf lassen. „Viel wichtiger ist seine Naturverbundenheit, die unendliche Weite, der Horizont, die Berge. Nicht als Abbildung wie bei Richard Strauss, sondern als Symbol für etwas Großes, Erhabenes.“

Kraft der Klarheit

Ich denke an die elegische Melodie der Celli zu Beginn des Andantes im zweiten Satz und an die immer wiederkehrenden gedämpften trauermarschartigen Rhythmen der Geigen und Bratschen. Wunderbar intime Augenblicke, denen man sich doch auch mal hingeben darf, oder? „Gewiss“, sagt Blomstedt, aber ohne pathetische Inszenierung. „Bruckners Musik ist so vielschichtig und so emotional, dass sie die Verleitung zu übertreiben groß ist, wenn man das Ziel aus den Augen verliert.“ Die Kraft, so Blomstedt, liegt bei Bruckners Symphonik im tiefen Respekt vor den Absichten des Komponisten, in Demut und Hingabe. „Die Musik steht immer im Mittelpunkt“ – da braucht es keine ausschweifenden Gesten und kein Gewusel. „Unnötige Bewegungen oder übertrieben große emotionale Ausbrüche lenken nur vom Wesentlichen, der Musik, ab“.

Diese durchdachte Geradlinigkeit, die Klarheit in der Tongebung und Klanggestaltung habe er sich vor allem in seiner früheren Zeit als Assistent bei Igor Markevitch erarbeitet, erzählt Herbert Blomstedt. „Er war ein phänomenaler Techniker, mit einer absolut klaren, beweglichen und eleganten Dirigiertechnik. Er verstand es, die Strukturen einer Partitur analytisch freizulegen und sie gleichzeitig von innen heraus dramatisch zum Glühen zu bringen.“

Die Magie von Geben und Nehmen

Wenn Herbert Blomstedt spricht, dann spürt man förmlich diese innere Spannung, aus der eine unglaubliche seelische Energie herauswächst, die sich schließlich im Zusammenspiel mit dem Orchester offenbart. Hier sitzt ein Mann ohne jegliche Allüren und ohne missionarischen Eifer. Ein Mann, der mit sich vollkommen im Reinen ist, der unbeirrbar seinen Weg gegangen ist und sich bis zum heutigen Tage eine jugendliche Neugierde und Offenheit bewahrt hat. Die vielen Orchester, mit denen Herbert Blomstedt seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, sind ihm freundschaftlich verbunden, weil er stets den richtigen Ton findet – menschlich und musikalisch. Seine größte Freude beim Dirigieren, betont er immer wieder aufs Neue, sei, dass er seine Erlebnisse mit den Musikern teilen kann. „Dieses Geben und Nehmen hat etwas Magisches.“ Zuhören, annehmen, Freiräume schaffen, so lautet Blomstedts oberstes Gebot. „Meine Mission ist es, die Musik den Menschen nahezubringen. Mit den Musikern im Orchester eint mich der gemeinsame Glaube an die Kraft der Musik.“

Daran, den Taktstock aus der Hand zu geben und sich von der Bühne zurückzuziehen, denkt Herbert Blomstedt noch lange nicht. Allein in diesem Jahr dirigiert er 77 Konzerte, die Planungen laufen bis 2016. Und auch musikalisch gibt es immer noch unerfüllte Wünsche. „Mahlers Siebte fehlt noch, und außerdem habe ich erst zehn Haydn-Symphonien dirigiert, da müssen mindestens noch 50 weitere dazu.“ Kraft geben ihm sein Glaube und die Musik. „Sie ist mein Lebenselixier. Dafür bin ich dankbar, jeden Tag.“