Am 2. März spielt Jewgenij Kissin im Wiener Musikverein. (Foto: Sheila Rock)

Der süße Duft von Orangenblüten

Zeitschrift der Musikfreunde Wien

Seit seinem Debüt als Zwölfjähriger in Moskau zählt Jewgenij Kissin zu den größten lebenden Pianisten. Die Geschichte rund um den Wunderknaben ist so spektakulär wie ihr klingendes Ergebnis. 1971 in Moskau geboren, begann Kissin als Zweijähriger mit Klavierunterricht bei seiner Mutter, mit zehn trat er zum ersten Mal öffentlich auf, mit zwölf spielte er an der Seite von Dmitrij Kitajenko und dem Philharmonischen Orchester Moskau die beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. In der sowjetischen Metropole sprach jeder über die erlebte Sensation. Über Nacht wurde Kissin zur Legende.
„Was heißt schon Legende“, sagt der Pianist heute. „Ich war ein Kind. Natürlich war es ein wichtiger Moment in meinem Leben. Aber Ruhm und Berühmtheit? Diese Attribute interessieren mich bis heute nicht.“ Kissins Eltern hatten damals einen ähnlichen Zugang zum Erfolg ihres Jungen. Noch am selben Tag reiste die Familie nach Swenigorod, einer kleinen Stadt westlich von Moskau, um dort ein paar Tage zu verbringen. Erst Jahre später erfuhr Kissin, dass sie damals die Stadt verlassen hatten, um ihn vor dem Rummel nach dem Konzert zu bewahren. „Als Kind“, sagt Kissin, „durfte ich pro Jahr auch nur zehn Konzerte geben. So blieb jeder Auftritt ein Erlebnis für mich.“

Beispiellose Zurückhaltung
Die Aufnahme des Konzertereignisses im Moskau des Jahres 1984 lässt sich auf Youtube nachsehen und nachhören. Selbst heute, mehr als 30 Jahre später, verblüffen die tiefe musikalische Reife und die interpretatorische Souveränität des damals Zwölfjährigen. In der Sowjetunion war man voller Hoffnung. Hatte man hier etwa den würdigen Nachfolger von Artur Rubinstein und Vladimir Horowitz gefunden?
Die Geschichte hat uns gelehrt: Kissin ist kein hypersensibler Künstler vom Schlag eines Horowitz, und ihm eignet nicht das Draufgängertum eines Rubinstein. Der russische Wunderknabe ist seinen eigenen Weg gegangen. Er hat mit 16 den großen Herbert von Karajan zu Tränen gerührt („Seine Anwesenheit inspirierte mich und öffnete ein verborgenes Potenzial in mir“), Swjatoslaw Richter zu einem Tagebucheintrag verleitet („Er spielt gut, aber er stürzt sich nicht Hals über Kopf ins Meer“) und die Podien rund um den Globus nach und nach erobert. Seit Jahrzehnten nimmt der Sohn eines Diplomingenieurs und einer Pianistin eine Ausnahmestellung im klassischen Musikbetrieb ein. Weil er sich als Künstler durch eine beispiellose Zurückhaltung gegenüber allen Vermarktungsmechanismen auszeichnet und Hoffnung macht, dass es immer noch möglich ist, Karriere auf Grund von Verdiensten – nennen wir es ruhig Genie – zu machen und nicht von Äußerlichkeiten.

Stille Verwunderung
Vor einiger Zeit gab Jewgenij Kissin ein Interview im israelischen Fernsehen. Auf die Frage des Moderators, wie es war, ein Wunderkind zu sein, sah ihn der 44-Jährige etwas irritiert an, schwieg einige Sekunden, als wollte er seine Verwunderung still kundtun, und antwortete lakonisch: „Keine Ahnung. Ich habe darüber nicht nachgedacht. Ich wollte einfach nur Klavier spielen. Die Musik war ein Teil meiner natürlichen Existenzform.“ In Gesprächen, zu denen der Pianist übrigens höchst selten bereit ist, klingt seine Stimme ein wenig kratzig, fast so, als wäre er noch im Stimmbruch, immer wieder dehnt er seine Hände, besonders die rechte. „Und Fußball? Haben Sie auch Fußball gespielt mit Ihren Freunden?“ Wieder lässt sich Kissin Zeit mit der Antwort, wundert sich mit verschmitzt-ironischem Unterton. „Natürlich, warum denn nicht? Alle Buben in meinem Alter haben Fußball gespielt.“

Eigene Emotionen
Wenn von großen, frühen Begabungen die Rede ist, fällt irgendwann das Wort „Wunderkind“ – ein Begriff, mit dem Künstler wie Jewgenij Kissin nur wenig anzufangen wissen und auf den wir zurückgreifen, weil er es uns leichter macht, einen Menschen zu umreißen, zu begreifen. Kissin ist unabhängig von den Klaviermoden unserer Zeit. Weil seine Eltern nie vorhatten, einen Musiker aus ihm zu machen, ließen sie ihm freie Bahn am Instrument, hielten jeglichen Druck von ihm fern und gaben ihm Zeit, sein Talent zu entfalten. Dass russische Pianisten allzu oft auf ein romantisches und spätromantisches Repertoire reduziert werden, empfindet Kissin als unerträgliches Vorurteil. „Gilels und Richter liefern Gegenbeispiele dazu. Ich hoffentlich auch.“ Wann und ob er etwas spielt, sagt Kissin, hängt von seinen eigenen Emotionen ab. „Ich muss es fühlen.“

Buntes Repertoire
Gegen alle Klischees eines russischen Tastenvirtuosen tourt Jewgenij Kissin derzeit mit einem ungewohnt bunten Repertoire, das ihn auch in den Musikverein führt. Mozart, Beethoven und Brahms stehen zu Beginn auf dem Programm, ehe sich Kissin mit Isaac Albéniz und Joaquín Larregla in mediterrane Gefilde begibt. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, gesteht er. Dementsprechend wagte er sich erst im „hohen“ Alter von sechsunddreißig Jahren daran, Beethovens Klavierkonzerte in ihrer Gesamtheit aufzunehmen. Mozart hingegen begleitet ihn schon sein ganzes Pianistenleben. Im Alter von zehn Jahren führte Kissin Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll erstmals im Konzert auf, dreimal hat er es seither eingespielt. Die erste Aufnahme entstand im Jahr 1984, damals war er zwölf Jahre alt.
Mit den Spaniern Albéniz und Larregla hat sich Kissin neues Repertoire erarbeitet. Es ist aufregend, sich vorzustellen, dass beim russischen Pianisten neuerdings der süße Duft von Orangenblüten in der Luft liegt, mit Musik, die die Sehnsucht nach Farben, Gerüchen, Blüten und Klängen weckt. Weil sie uns an den Sommer, das Feuer, die Leidenschaft denken lässt.

Entfesselte Kräfte
„Man schließt die Augen, und es schwindelt einem vor lauter Einfallsreichtum der Musik.“ Kein Geringerer als Claude Debussy äußerte sich derart enthusiastisch über Albéniz, der es glänzend verstand, musikalische Folklore mit blendender Virtuosität zu vereinen. Vier Sätze aus dessen berühmter „Suite española“ hat Kissin in sein Programm mit aufgenommen und lässt dabei geradezu impressionistische Stimmungs- und Charakterbilder erklingen – von der Eröffnungsserenade „Granada“ über „Cádiz“, das mit seinen feurigen Rhythmen an einen Bolero erinnert, bis zum toccatenartigen Miniaturdrama „Asturias“. Dabei lässt sich erahnen, welche Kräfte Kissin erst zu entfesseln vermag, wenn er sich inmitten der ungestümen Klänge von Joaquín Larreglas „Viva Navarra!“ ein gegenseitiges Sich-Übertrumpfen, Überkreuzen und Überschlagen liefert.

Gewohntes Ritual
Abseits der Bühne ist Jewgenij Kissin ein leiser Künstler, der lieber die Musik für ihn sprechen lässt. Über sein Privatleben ist so gut wie nichts bekannt, außer, dass er stets seine Familie um sich hat: seine Mutter, seine Schwester und seine erste, einzige Lehrerin Anna Kantor. Sie leben mit ihm – oder er mit ihnen, wie man es sehen möchte. Anna Kantor kennt Kissin als Künstler besser als irgendjemand sonst; sie hört ihn zu Hause spielen, ungefähr alle paar Wochen treffen sich die beiden zum Gespräch. Auch in Wien wird die Ur-Ur-Schülerin von Franz Liszt bei ihrem Schützling sein. Das Ritual ist immer dasselbe. Hat Kissin mit ihr akustische Fragen besprochen und sich beraten, auf welchem der bereitstehenden Instrumente er spielen wird, übt er am Tag des Konzerts zwei bis drei Stunden, isst zu Mittag und ruht sich anschließend noch ein wenig aus. Wenn Kissin später das Podium betritt, hat er es stets eilig, sich ans Instrument zu setzen. Es gibt für ihn kein schöneres Gefühl, als wenn seine Finger die Tasten berühren.

Feinsinniger Lyriker
Mit Mitte vierzig umgibt den Russen immer noch die Aura vom Rätselhaften, kindlich Weltfremden. Auch wenn der Zauber seiner Wunderkindjahre längst verflogen ist, bleibt das Bild des in sich gekehrten Lockenkopfs mit dem steifen Gang und den viel zu breit geschnittenen Sakkos. Wer aber genau hinsieht, genau hinhört, wird bemerken, dass sich der Begnadete im Vergleich zu früher freier bewegt. Spontaner. Wenn er heute spielt, dann schwingt sein Körper mit der Musik, und es huscht ihm immer wieder ein Lächeln über die Lippen. Am Klavier fühlt sich Kissin zu Hause, hier werden Gefühle unmittelbar in Klänge verwandelt. Hier meistert er ganz selbstverständlich die technischen Herausforderungen, aufbrausend, draufgängerisch, furios. Hier entfaltet sich der feinsinnige Lyriker, zärtlich, charmant und wunderbar gelöst. Hier stürzt er sich ins Meer.

Mittwoch, 2. März 2016
Musikverein, Goldener Saal

W. A. Mozart: Sonate C-Dur, KV 330
Ludwig van Beethoven:Sonate f-Moll, op. 57 “Sonata appassionata”
Johannes Brahms: Drei Intermezzi, op. 117
Isaac Albéniz: Granada, op. 47/1, Cádiz, op. 47/4, Córdoba, op. 232/4, Asturias, op. 47/5
Joaquin Larregla: Viva Navarra!