„Matthias, machen Sie alles anders!“

Matthias Pintscher (Foto: Andrea Medici)

Matthias Pintscher (Foto: Andrea Medici)

Die Bühne

Matthias Pintscher ist ein Vielreisender. Gerade kommt er aus Australien, wo er in den letzten Wochen mehrere Konzerte dirigiert hat. Als das Telefon läutet, ist es an der Ostküste der USA neun Uhr morgens. Matthias Pintscher ist schon seit einigen Stunden wach, der Jetlag. Vor sieben Jahren zog er nach New York und hatte zum ersten Mal das Gefühl, angekommen zu sein. Er erzählt von seinem Apartment, das an der Upper East Side liegt und von dem großen Schreibtisch, an dem er gerade sitzt und über den Hudson-Fluss blickt. Hier, in diesem lichtdurchfluteten Raum findet Matthias Pintscher Ruhe und Inspiration. Neben seinen eigenen Partituren türmen sich jene von Beethoven, Schönberg, Schubert, Brahms und natürlich Boulez. Für das Interview hat er Bleistift und Papier bei Seite gelegt. „Langsam füllen sich die leeren Seiten mit Noten“, sagt er. Für Grafenegg, wo Matthias Pintscher heuer als Composer in Residence geladen ist,  entsteht gerade eine Fanfare, und demnächst möchte er endlich mit der Arbeit an seinem zweiten Cellokonzert beginnen. Celli, Bratschen Harfen, Kontrabässe, Fagotte, Bassklarinetten – sie gehören zu Matthias Pintschers Lieblingsinstrumenten. „Erst kürzlich habe ich mir auch die Trompete und das Horn erschlossen. Ich mag Instrumente, die dunkle Klänge haben und zugleich zart klingen“. 2005 komponierte er das Werk Verzeichnete Spur für Kontrabass, drei Violoncelli, Instrumente und Live-Elektronik. Zwischen den instrumentalen Schichten und ihren elektronischen Pendants entsteht ein Kosmos von Klängen, die einander auffangen, imitieren und verändern ehe sie komplett zusammenschmelzen. Vage und fragil, lyrisch und betörend sensualistisch klingen Matthias Pintschers musikalische Welten. „Bei all der Abstraktion in der Neuen Musik dürfen wir nicht vergessen, dass alles, was Musik ausmacht, der Atem, der Klang, die Bewegung und die Agogik, etwas genuin physisches, sinnliches ist. Wenn wir Musik hören, suchen wir unsere eigenen Bilder. Musik spricht unsere Erinnerungen, unsere Wünsche und Sehnsüchte an. Es geht um die subjektive Wahrnehmung, nicht um das Verstehen. Wenn Leute sagen, ich war fasziniert, habe aber nichts verstanden, finde ich das wunderbar“.

Matthias Pintscher hat schon als Teenager seine ersten gültigen Werke geschrieben. 1971 im nordrhein-westfälischen Marl geboren, begann er mit 9 Jahren Geige zu spielen und stand mit 14 erstmals am Pult eines Jugendorchesters. „Vom Klang umgeben zu sein, ihn mitzugestalten und so Teil von etwas ganz Großem zu sein, hat mich damals schon unglaublich fasziniert“. Das Orchester wurde zu seinem Instrument, für das er wie ein Besessener zu schreiben begann. Er begann bei Manfred Trojahn Komposition zu studieren, lernte mit 18 seinen späteren Freund und Mentor Hans Werner Henze kennen, zog erst nach London und später nach Paris, wo sich unter sein Schreiben ein gutes Stück französische Raffinesse vermengte. Aufmerksam wurde die internationale Musikwelt auf Matthias Pintscher 1998 in Dresden, wo an der Semperoper seine Oper „Thomas Chatterton“ uraufgeführt wurde. 2004 komponierte er für die Pariser Opéra Bastille sein zweites Musiktheaterwerk, indem er die Welt-Innen-Räume seines Lieblingsdichters Arthur Rimbaud umkreist.

„Ich liebe die französische Musik, weil sie das genaue Gegenteil von Abstraktion ist. Debussy, Ravel, ja selbst Pierre Boulez haben mit ihren Kompositionen hoch aufgeladene und unglaublich intensive Gesamtkunstwerke geschaffen. Auf meinem Schreibtisch habe ich gerade die Partitur von Boulez´ Répons liegen, ein orgiastisches Werk mit extrem ausgeklügelten und präzisen Strukturen. Aber darunter glüht eine Masse an Intensität, Farben und Emotion“. Bei den Salzburger Festspielen wird Pintscher das Stück für sechs Soloinstrumente, Kammerorchester und Live-Elektronik im Rahmen von „Salzburg contemporary“ anlässlich des 90. Geburtstages von Pierre Boulez dirigieren. Mittlerweile zählt Matthias Pintscher nicht nur zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten, sondern arbeitet auch als Dirigent regelmäßig mit den bedeutendsten Orchestern und Ensembles in Europa und in den USA zusammen.

Matthias Pintscher (rechts) und Pierre Boulez bei der Probe. (Priska Ketterer / Lucerne Festival)

Matthias Pintscher (rechts) und Pierre Boulez bei der Probe. (Priska Ketterer / Lucerne Festival)

Vor 15 Jahren lernten Matthias Pintscher und Pierre Boulez einander in Luzern kennen, es folgten Jahre des persönlichen Austausches in Paris und die Entwicklung einer intensiven Freundschaft. „Wir haben viele Stunden auf seiner Couch verbracht und über die großen Partituren der Musikgeschichte gesprochen. Die Zeit mit Pierre Boulez zählt zu den wichtigsten und inspirierendsten schöpferischen Quellen meiner künstlerischen Arbeit. Ohne ihn gäbe es mich überhaupt nicht“. Was ist eigentlich die größte Herausforderung, wenn man Pierre Boulez dirigiert? Für Matthias Pintscher zweifelsohne die Tatsache, dass die Musik Pierre Boulez´ so eng mit der Person Pierre Boulez verbunden ist. „Wir genau wissen, wie er sie gespielt hat. Als mir Pierre Boulez vor zwei Jahren das Ensemble intercontemporain in Paris übergab, sagte er: „Matthias, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Machen Sie alles anders“. Das ist gar nicht so einfach, denn seine Aura, sein Dirigierstil und seine Technik schwingen immer mit. Aber für Boulez war immer Weitergehen ist das Wichtigste und die Bewegung Quelle alles Schöpferischen“. Als Vordenker der Avantgarde habe Pierre Boulez die Weichen für die nachfolgende Generationen gestellt, sagt Matthias Pintscher. Nicht nur als Komponist und als klangsinnlicher Poet, sondern auch als Musiktheoretiker, Forscher und Dirigent. „Boulez hat eine große, weltweite Welle in Bewegung gesetzt, die auch nach seinem Tod nicht abebben wird. Was er geschaffen hat, tragen wir jetzt weiter“.

Matthias Pintscher in Grafenegg
Für die Eröffnung des Grafenegg Festivals komponierte Matthias Pintscher eine Fanfare, die am 14. August vom Tonkünstler-Orchester unter Andés Orozco-Estrada uraufgeführt wird. Im Prélude am 23. August erklingt sein Janusgesicht für Viola und Violoncello, am 26. August moderiert er das Abschlusskonzert des von ihm geleiteten Composer-Conducter-Workshops INK STILL WET. Im Prélude am 30. August bringt Matthias Pintscher mit dem Ensemble TON-aktuell sein Celestial Object II für Horn und Ensemble zur Aufführung, am selben Abend tritt er dann auch noch ans Pult des Tonkünstler-Orchesters, um sein Chute d´étoile, eine Hommage à Anselm Kiefer für zwei Trompeten und Orchester sowie Dukas’ Zauberlehrling und Beethovens 7. Symphonie  zu dirigieren. Mit demselben Orchester nimmt sich zuletzt der Dirigent Jakub Hrusa am 4. September seines Stücks Ex nihilo an.

Salzburger Festspiele: Salzburg Contemporary Pierre Boulez zum 90. Geburtstag
Pierre Boulez Répons (1981/85) pour six solistes, ensemble de chambre, sons électroniques et électronique en temps réel
Lehrbauhof, 15. August 2015, 20 Uhr