“Die Stimme ist der Spiegel unserer Seele”

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Chen Reiss (Foto: Baldvinsson & Betz)

Chen Reiss (Foto: Baldvinsson & Betz)

Es ist früher Nachmittag, typisches Wiener Novemberwetter, eine Mischung aus Nebel und Nieselregen. Chen Reiss hat ein Treffen in einem Kaffeehaus in der Innenstadt vorgeschlagen, nur wenige Gehminuten von der Staatsoper entfernt, wo sie später mit dem Korrepetitor zum Proben verabredet ist. Sie kommt in einem kurzen, eleganten Kleid und hohen Stiefeln, trägt Schwarz, die langen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Todschick sieht die 34-Jährige aus, dazu dieses unverschämt glückliche Strahlen in ihren Augen.

„Ich bin total ausgehungert“, sagt sie und bestellt sich einen Salat. Salat? Ja, etwas Leichtes muss es sein, sonst klappe das nachher mit dem Singen nicht so gut, lacht sie und strahlt dabei noch ein bisschen mehr. „Die Babypause hat mir und meiner Stimme gut getan“, sagt sie und zeigt stolz ein Bild ihrer kleinen Tochter. Sechs Monate lang hat sich Chen Reiss von der Bühne zurückgezogen, eine wohl verdiente Auszeit, in der sie auch ganz bewusst keinen einzigen Ton gesungen habe. „In den letzten zehn Jahren habe ich nur gearbeitet und ständig aus dem Koffer gelebt“. Chen Reiss spricht gerne über ihr junges Mutterglück und erzählt, wie sehr sie die Zeit genossen habe, vor und nach der Geburt. „Es gab so viel zu tun, wir mussten unser Haus in London umbauen und eine Hochzeit organisieren. Wenn das Baby erst einmal da ist, verschieben sich die Prioritäten. Wir Sänger können sehr egoistisch sein. Jetzt stehen nicht mehr meine Bedürfnisse an erster Stelle, und das ist gut so“.

Chen Reiss wurde 1979 in Herzlia, einer Vorstadt von Tel Aviv geboren. Ihre Mutter ist Opernsängerin, sie selbst begeistert sich schon als Kind für klassische Musik, lernt Klavier und tanzt Ballett, so leidenschaftlich gerne, dass sie eigentlich Ballerina werden will. Doch dann lässt eine Beinverletzung den Traum zerplatzen. Also geht Chen Reiss zum Gesangsunterricht. Erste Erfahrungen als Sängerin sammelt sie beim israelischen Militär, wo Männer und Frauen den Dienst an der Waffe ausüben müssen. „Drei Wochen lang musste ich jeden Tag um fünf Uhr aufstehen, Toiletten putzen und schießen lernen. Danach wurde ich zum Glück Sängerin des Militärorchesters und habe anstatt zu kämpfen, Oper, Musical, Chansons, Operette und israelische Lieder gesungen“.

Nach der Armee und einem kurzen Zwischenstopp im Nationaltheater packt Chen Reiss mit 19 ihre Koffer und fliegt nach New York. „Wer international Karriere machen will, muss weg aus Israel.“ Anders als in ihrer Heimat ist die Konkurrenz in der amerikanischen Metropole riesig. „Ich war ein naives Mädchen mit einem großen Traum für den ich hart kämpfen musste. New York hat mich stark gemacht und mit geholfen, meinen Weg zu finden“. Nach Abschluss ihres Gesangstudiums wird Chen Reiss vom Fleck weg nach München engagiert. Drei Jahre singt sie an der Bayrischen Staatsoper, wo sie als Oscar in Verdis „Maskenball“ debütiert. In Wien feiert Chen Reiss 2009 ihr Debüt als Sophie in Richard Strauss´ Rosenkavalier – einer ihrer Lieblingsrollen. Seither singt sie freischaffend auf den großen Konzert- und Opernbühnen dieser Welt.

Die Rückkehr aus der Babypause wollte Chen Reiss eigentlich behutsam angehen und erst im Jänner mit der Adina aus Donizettis „Liebestrank“ auf die Opernbühne zurückkehren. „Daraus wird jetzt wohl nichts“. Ganz unerwartet kam vor einigen Tagen der Anruf aus Wien und brachte ihr ein Engagement in der Neuinszenierung der Zauberflöte an der Staatsoper ein, wo sie am 17. November statt Anita Hartig die Rolle der Pamina singen wird. „Am Ende fügt sich alles zusammen“, sagt Chen Reiss. Das Lachen kommt aus der Kehle, ein vertontes Schmunzeln.

Nebst der Pamina und der Adina gibt es in der laufenden Spielzeit unter anderem auch Auftritte als Xenia („Boris Godunow“) und das Rollendebüt als Füchslein Schlaukopf in Janáceks Märchenoper „Das schlaue Füchslein“. Hinzu kommt eine ganze Reihe an Konzerten und Liederabenden. „Ich brauche die Balance zwischen Oper und Konzert. Ich liebe sakrale Musik von Bach und Händel. Vielleicht liegt es daran, dass ich in einem Land wie Israel aufgewachsen bin, wo Glaube und Gott sehr präsent sind“. Die Intimität eines Liederabends will Chen Reiss ebenso wenig missen. Zwei CDs hat die Sopranistin bisher veröffentlicht, Programme, die sie immer wieder im Konzert singt. 2011 wurde „Liaisons“ auf dem Reiss in das Wien des 18. Jahrhunderts eintaucht, mit dem begehrten Diapason d´Or ausgezeichnet. Ihr zweites Album widmete Chen Reiss der Nachtigall und der Rose und singt sich, auf der Suche nach der Liebe, durch 300 Jahre Musikgeschichte, von Henry Purcell über Schumann und Brahms bis zur sanft swingenden Fassung von Manning Sherwins „A Nightingale in Berkeley Square“.

Übrigens erarbeitet Chen Reiss immer noch jede Rolle mit ihrer Lehrerin in New York. Erst vor wenigen Wochen war sie wieder dort, diesmal mit ihrem Mann und Baby Arielle. Die Schwangerschaft habe ihre Stimme verändert, sagt sie. „Ich bin jetzt viel freier und offener. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten“. Dennoch möchte Chen Reiss bei ihrem Fach, dem Lyrischen, bleiben – vorerst. „Vielleicht wird es in der Zukunft dramatischer. Für jede neue Rolle braucht man Lebenserfahrung. Die Stimme ist der Spiegel unserer Seele. Ich bin heute ein anderer Mensch, als ich es noch vor sechs Monaten war, und das nehme ich auch auf der Bühne mit“. Das Glück, man sieht es ihr an.