Die Neuerfindung des Klaviers

 

Denis Matsuev (Foto: Maestro Artists)

Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Keiner hat die Dimensionen des Klavierspiels weiter aufgebrochen als Franz Liszt. Keiner hat die Grenzen der Klaviermusik so radikal gesprengt wie er. Der Genius Liszt – so sieht es auch der russische Starpianist Denis Matsuev – ist der „Mephistopheles des Pianoforte“. „Kaum auszudenken, was Liszt mit einem Instrument angestellt hätte, das uns Pianisten heute zur Verfügung steht“. Am 5. und 6. März sitzt Matsuev am Flügel und spielt Liszts Klavierkonzert Nr. 1.

Paris, 8. März 1824. „Ich bin überzeugt, daß die Seele und das Genie Mozarts in den Körper des jungen Liszt übergegangen sind … Um einen Begriff von dem Eindruck zu geben, den die Zuhörer haben empfinden können, erwähne ich die Wirkung, die er auf die Musiker selbst des Orchesters der italienischen Oper, dem besten in Frankreich und Europa hervorbrachte: Augen, Ohren und Seele auf das magische Instrument des jungen Virtuosen gerichtet, vergaßen sie einen Augenblick, daß sie auch Mitwirkende in diesem Konzert waren – und alle Instrumente verfehlten ihren Einsatz.“ Am Abend zuvor hatte „le petit Litz“ ein Konzert in der französischen Metropole gegeben und seinen Zuhörern, so Kritiker Alphonse Mainville, „gehörig den Kopf verdreht“. Liszt war damals erst vierzehn Jahre alt.

Technik, Effekt, Poesie

Mehr als alle anderen Pianisten wusste Liszt Technik, Effekt und Poesie miteinander zu verbinden. Und dennoch wurden Liszts kompositorische Errungenschaften konsequent geschmälert, oder, wie die späten Klavierstücke, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Liszts Musik wurde rasch der Stempel der „gehobenen Unterhaltungsmusik“ aufgesetzt, und seine Klavierkompositionen taugten, wenn überhaupt, höchstens als Zugabennummern. Selbst heute noch fordert die Auseinandersetzung mit Liszt eine sehr persönliche Stellungnahme. Die einen bewundern und verehren ihn, die anderen halten seine Musik für salonhaft, aufgeputzt, effekthascherisch, ja geschmacklos … Denis Matsuev findet, dass solche Musiker besser die Finger von Liszt lassen sollten. Denn die bloße Zurschaustellung brillanten Pomps sei Liszt selbst ebenso zuwider gewesen wie pianistische Hexenkünste nur um des Effektes willen.

Der größte Neid-Erreger 
der Musikgeschichte 

In Wirklichkeit stand Liszt, wie es Alfred Brendel treffend formulierte, in „zorniger Opposition“  zum Salonvirtuosentum. Dem 16-Jährigen graute gar vor einem Virtuosenleben, dessen Öde er mit seiner Intelligenz und seinem ungebeugten Kunstanspruch schon durchschaute, als er kaum die ersten Erfahrungen gesammelt hatte. „Mich überfiel ein bitterer Widerwille gegen die Kunst, wie ich sie vor mir sah: erniedrigt zum mehr oder minder einträglichen Handwerk, gestempelt zur Unterhaltungsquelle vornehmer Gesellschaft. Ich hätte alles in dieser Welt lieber sein mögen als Musiker im Solde großer Herren, patronisiert und bezahlt von ihnen wie ein Jongleur.“ Wie nahe Ruhm, Neid und Missgunst beieinander liegen, zeigt sich exemplarisch am Beispiel Liszts. Liszt war wahrscheinlich der größte Neid-Erreger der Musikgeschichte. Nicht nur weil ihm auf dem Klavier kaum etwas unerreichbar war. Löste er bereits als junger Knabe Wellen der Begeisterung aus, so geriet das Publikum später in regelrechte Ekstase, wenn er das Podium betrat. Frauen, die statt Blumen ihre Juwelen auf Podium warfen – böse Zungen behaupteten gar, Liszt bezahle dafür, dass die Damen sich rauften und reihenweise in Ohnmacht fielen. Doch woher kam diese magische Anziehungskraft, die der Sohn eines bescheidenen ungarischen Beamten ausübte?

Eine Sache der Virtuosen

Liszt hatte alles an sich, um das zu sein, was man heute einen „Star“ nennt: geniales Können, blendendes Aussehen, selbstsicheres Auftreten und stählerne Gesundheit. Als der grauhaarige Moscheles den 17-jährigen Liszt hörte, gestand er, dass sein Spiel „alles früher Gehörte an Kraft und Überwindung von Schwierigkeiten übertreffe“. Fassungslosigkeit auch bei den jungen Rivalen Liszts angesichts der Besessenheit und der poetischen Kraft seines Musizierens. Clara Wieck war in Verzweiflung, weil Liszt vom Blatt spielte, „womit wir uns abmühen und am Ende doch nichts zustande bringen. Manchmal meint man doch, es sei ein Geist, der da am Klavier sitzt“.
Perlende Läufe, hagelgleiche Triller, blitzende Arpeggien und donnernde Akkorde – kein Wunder, dass einige seiner Konkurrenten meinten, es sei unfair, dass ein einziger Mensch so viel pianistisches und musikalisches Genie in sich vereine. „Liszt sah in der Virtuosität die Möglichkeit, alles wiederzugeben, was in der Musik zum Ausdruck kommt“, so Denis Matsuev. „Aber machen wir uns nichts vor: Liszts Klavierwerke sind ganz ausgesprochen eine Sache des Virtuosen.“

In vieler Hinsicht 
der Erste

Liszt setzte sich über alle bisherigen musikalischen Konventionen hinweg. Als sich die Orchester weigerten, Berlioz’ Monstermusik zu spielen, packte er sich 1833 Berlioz-Partituren aufs Notenpult und spielte sie bei seinen Solo-Tourneen in ganz Europa. Kurz darauf brachte er in gleicher Weise Beethovens Symphonien unters Volk und schließlich 55 Lieder von Franz Schubert, der damals außerhalb Wiens nahezu unbekannt war. Liszt war der Erste, der das Klavier wie ein Orchester behandelte, und es war kein Zufall, dass seine Arrangements von Beethoven-Symphonien und Berlioz-Orchestermusik zu den populärsten Stücken seines frühen Repertoires gehören. Er war der erste Virtuose, der in großen Sälen vor Tausenden auftrat und Konzertreisen zu einem „Mega-Event“ machte. Schließlich war er derjenige, der das Recital, das von einem einzigen Künstler bestrittene Solokonzert, ins Leben rief. 

Alles – und noch etwas mehr

Liszts pianistische Mittel übertreffen alles bisher Dagewesene an Mannigfaltigkeit, Klangreichtum, an wahrhaft königlicher Beherrschung des Instruments. Liszt konnte das Klavier zum Singen bringen, er ließ es flüstern und rührte seine Zuhörer oft zu Tränen. Liszt verlangte alles vom Klavier, einschließlich des scheinbar Unmöglichen, und er erreichte es fast immer. Dass er an einem Abend mitunter mehrere Flügel „verbrauchte“, lag wohl vor allem daran, dass sein Spiel die damaligen Instrumente bis weit über ihre technischen Grenzen hinaus forderte und wohl auch überforderte. Wer sein Virtuosentum als reine „Show“ abzutun versucht, der hat Liszts Kunst und Persönlichkeit gründlich missverstanden. Liszt hielt nichts von einer Zur-Schau-Stellung reiner Technik und entschuldigte sich später auch manchmal wegen seiner früheren Opern-Transkriptionen: „Setzen Sie es auf die Rechnung des damaligen Zeitgeschmacks.“

Tiefe Blicke

Dass Liszt sich in seinen jungen Jahren oft blasiert benahm, seine Glacéhandschuhe achtlos auf den Boden warf und die Damen mit tiefen Blicken in seinen Bann zog, daran besteht kein Zweifel. Sein ganzes Leben lang war er rastlos auf der Suche, zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Publikums und seinem eigenen Bedürfnis nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Der ihm zugedachten Rolle eines bloßen Klaviervirtuosen bald müde, gab Liszt 1847, mit nur 36 Jahren, auf der Höhe seines Ruhmes, das Konzertieren auf und spielte nie wieder für eine Gage. Was keineswegs heißen will, dass er nicht mehr öffentlich spielte. Fast bis zu seinem Todestag tat er es. Die Gunst des Publikums und Komplimente waren ihm ein Lebenselement.

Abgestreiftes Prunkgewand

Gegen Ende seines Lebens legte Liszt das für viele seiner Werke so charakteristische Prunkgewand ab und suchte nach Wegen, die Tonalität zu erweitern. Er schrieb Stücke, an deren Veröffentlichung und Propagierung ihm nichts mehr lag, die von asketischer Kargheit sind und sich so weit von Normen wie Tonalität und Form entfernen, dass kein Zeitgenosse mehr folgen konnte. Liszt wusste, dass er „seinen Speer allzu weit in die Zukunft warf“, und in der Tat bleibt vieles aus seinem Schaffen bis heute unerschlossen.