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Zur Estenmusik rat ich dir, hör die Tulve & den Tüür

Helena Tulve, Foto: ECM

Helena Tulve, Foto: ECM

Falter

Drei neue Veröffentlichungen des Labels ECM geben einen spannenden Einblick in das musikalische Schaffen im Norden Europas.

Auf der estnischen Ostseeinsel Hiiuma wurde Erkki-Sven Tüür geboren, damals war das Land noch von den Sowjets okkupiert. Ende der 1970er Jahre gründete er in seinem Heimatland die Rockband In Spe, verdiente sein Geld als Flötist, Keyboarder und Sänger, studierte dann an der Musikakademie Tallinn und wurde mit den Anfängen der „Perestroika“ schnell auch außerhalb Estlands bekannt. Heute zählt er zu den eigenwilligsten und sogleich interessantesten Komponisten der Gegenwart. Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks und der NDR Chor haben unter der Leitung von Paavo Järvi Tüürs Klavierkonzert (Solistin: Laura Mikkola) und seine Siebte Symphonie aufgenommen. Im Mittelpunkt von Tüürs kompositorischen Schaffens steht die Verbindung von Gegensätzen. Da werden Kantilenen jäh durchbrochen, Tonales trifft auf Atonales, peu à peu steuert die Musik einen dramatischen Höhepunkt an, um sich dann in einer unheilvollen Stille zu verlieren. Seine Stücke beschreibt der Komponist als abstrakte, klingende Dramen. „Sie entfalten sich in einem Raum, der sich unablässige verschiebt, ausdehnt und zusammenzieht“.

Helena Tulve, 1972 geboren, teilt die Vorliebe ihres Lehrers und Landsmannes Erkki-Sven Tüür für transformative Prozesse in der Musik. Arboles lloran por lluvia“ (Die Bäume weinen um Regen) hat sie ihr Album genannt und lässt darauf fünf Stücke in den unterschiedlichsten Besetzungen erklingen, vom Alte-Musik-Ensemble mit Countertenor über das Quartett bis hin zum Symphonieorchester. Nach Innen gekehrt und zugleich hochexpressiv gestalten sich Tulves Klangwelten: da treffen ätherische Flageolett-Töne auf rasanten Tempiwechsel und fast unhörbares Vibrieren auf hochdramatische Ausbrüche. Manches ist organisch, manches archaisch, vieles geheimnisvoll.

Mieczislaw Weinberg ist immer noch ein Geheimtipp. Gemeinsam mit seiner Kremerata Baltica hat Gidon Kremer dem polnisch-sowjetischen Komponisten nun ein musikalisches Porträt (2 CDs) gewidmet. Zu Beginn steht Weinbergs 3. Sonate für Violine Solo, ein hoch virtuoses und über weite Teile ausgesprochen schroffes Stück indem Weinberg den Tod seiner Eltern im KZ verarbeitet. Bekömmlicher sind die Sonatine op. 46 für Violine und Klavier (bravourös: Daniil Trifonov) sowie das spätromantisch klingende Concertino op. 42 für Violine und Streichorchester. Eine gute Einstimmung auf die 10. Symphonie. Sie zählt zu den experimentellsten Werken des Komponisten, der hier mutig12-Ton-Reihen und Akkordstrukturen miteinander verbindet. Vor allem aber ist das Stück ein ungemein packendes Opus, voller überraschender Klangkombinationen, mächtige Forte-Ausbrüche, heftige Glissandi und bedrohliche Kantilenen.