“Lieber Gott, lass mich bloß nicht wahnsinnig werden!”

Falter

Marianne Crebassa & Johanna Wokalek (Foto: Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik)

Marianne Crebassa & Johanna Wokalek (Foto: Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik)

„Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, dass die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, passt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme so lange zu singen, bis das Blatt fertig ist …“. Mit diesen Worten begann Charlotte Salomon ihr autobiografisches Stück „Leben? oder Theater?“. Die Salzburger Festspiele erzählen mit einer Oper das Schicksal der deutschen Malerin.

Vor ein paar Jahren stieß der französischen Komponist Marc-André Dalbavie auf das Werk und begann sich mit der tragischen Lebensgeschichte der jüdischen Malerin zu beschäftigen, die nach der Pogromnacht zu ihren Großeltern nach Südfrankreich floh. Dalbavie: „Es ist faszinierend, wie es ihr gelungen ist, ein autobiographisches Gesamtkunstwerk zu schaffen, in dem sie Malerei, Dramaturgie, Musik, Text kunstvoll miteinander verbindet“. Bald entstanden erste musikalische Skizzen, die sich langsam verdichteten und zu klingenden Landschaften heranwuchsen.

Das Malen und Schreiben war für Charlotte Salomon etwas Lebensnotwendiges. Kunst hieß für sie Überleben. Als sich mit dem drohenden Einmarsch der deutschen Truppen 1940 ihre Großmutter das Leben nahm, erfuhr Charlotte Salomon auch vom Freitod der eigenen Mutter. Sie war aus dem Fenster gesprungen als Charlotte neun Jahre alt war. Der Schock löste bei der jungen Frau eine existentielle Krise aus – „Lieber Gott, laß mich bloß nicht wahnsinnig werden!“, wird sie später in der Lebensgeschichte schreiben. „Innerhalb von nur zwei Jahren entstanden 1.300 Blätter, denen sie Musikzitate hinzufügte, jene Melodien, die ihr beim Malen und Schreiben durch den Kopf gingen“, erzählt Marc-André Dalbavie, der die Geschichte gemeinsam mit Regisseur Luc Bondy als multimediales Werk auf die Bühne bringt und auch selbst dirigiert. „In der Oper passiert alles im Hier und Jetzt und in direktem Kontakt zum Publikum.“ So werden Salomons Bilder als Projektionen zu sehen sein, während Librettistin Barbara Honigmann die Protagonistin gleicht doppelt besetzt hat: Johanna Wokalek verkörpert Charlotte Salomon in einer Sprechrolle während die französische Mezzosopranistin Marianne Crebassa als Salomons Alter Ego Charlotte Kann auf der Bühne steht.

Für Marc-André Dalbavie spielt die Musik in Charlottes Lebensgeschichte eine wesentliche Rolle, „denn hier fand sie ihre Inspiration“. Und so verwebt er Klänge aus Bizets „Carmen“, einen Bachchoral oder ein jüdisches Volkslied in seine eigene Komposition; erst nach und nach treten die musikalischen Zitate in den Hintergrund. Im 2. Akt konzentriert sich die Dramaturgie auf das Dreiecksverhältnis zwischen Charlotte, ihrer Stiefmutter, in die sie sich verliebt hatte, und ihrem Mentor Amadeus Daberlohn.

„Trotz ihres tragischen Lebens, das ein schreckliches Ende nahm, muss Charlotte Salomon eine unglaublich positive Frau gewesen sein, die viel Humor und Selbstironie besaß“, sagt Dalbavie. „Die Intensität der Farben in ihren Gouachen, dieses Strahlen, findet sich in meiner Musik wieder“. Auf dem letzten Bild sieht man die Malerin am Strand sitzen und malen. Nur kurze Zeit später, im Oktober 1943, wurde die schwangere Charlotte Salomon verhaftet und in Auschwitz ermordet. Sie war 26 Jahre alt.